von Evelyn Finger
DIE ZEIT 21.06.2012
Der Gedanke an den Selbstmord ist ein großer Trost. Denn er hilft uns, sagt Nietzsche, über die Verzweiflung hinweg. Denn er steht als letzte Wahl, sagt Schiller, auch dem Schwächsten offen. Und vielleicht ist er das einzige Stück Freiheit, sagt Stefan Zweig, das man sein ganzes Leben ununterbrochen besitzt. Dass der Selbstmord keine Verzweiflungstat und keine Sünde ist, sondern Freiheit bedeutet, dieser Gedanke kursiert im Abendland schon seit der Antike. Und doch bleibt Gewalt gegen sich selbst eine Provokation. Denn der Einzelne, der sein Leben absichtlich beendet oder gefährdet, setzt alle ins Unrecht. Er weckt ihr schlechtes Gewissen. Er erzeugt Zorn.
So erlebt es jedenfalls Norbert Denef, der nun seit vierzehn Tagen im Hungerstreik ist. Er sagt, dass viele Menschen wütend auf seinen Protest reagieren. Denef ist Sprecher des deutschlandweit größten Verbandes von Missbrauchsopfern netzwerkB und verweigert momentan jede Nahrung, weil er die gesetzlichen Zustände in diesem Land für die Betroffenen unaushaltbar findet. Und weil er sich von der SPD verraten fühlt. Die Zustände: Sexuelle Gewalt verjährt im Strafrecht nach zehn Jahren und im Zivilrecht nach drei Jahren. Weil aber Missbrauchsopfer aus Scham oft jahrelang schweigen, werden die Täter nicht rechtzeitig angezeigt. Man kann sagen: Hier kollidiert das geltende Recht mit der Psychologie der Opfer.
Das will netzwerkB ändern, und viele Politiker wollen das auch. An Runden Tischen werden die Verjährungsfristen seit mehr als zwei Jahren diskutiert. Namentlich die SPD hat die Lösung des Problems zu ihrer Sache gemacht. Auf ihrem letzten Parteitag gab es Standing Ovations sämtlicher Delegierter für eine Rede Norbert Denefs, der seine persönliche Geschichte erzählte: wie er als Kind jahrelang von katholischen Geistlichen missbraucht wurde, und wie die Täter, trotz eines Geständnisses, am Ende unbehelligt bleiben. Denef sagte am Schluss der bewegenden Rede: »Ich fordere Sie auf und bitte Sie herzlich, uns zu helfen, dass die Verjährungsfristen aufgehoben werden. Jetzt und nicht irgendwann!« Danach applaudierte der ganze Saal. Viele weinten. Und der Redner wurde von der stellvertretenden Bundesvorsitzenden Hannelore Kraft lange umarmt.
Und dann? Passierte nichts, sagt Denef. »Nur Gerede.« Tatsächlich beschloss die SPD keinen Antrag auf Aufhebung der Verjährungsfristen, aber sie überwies ihn zur Prüfung an die Bundestagsfraktion. Diese Prüfung hält Denef für Gerede. Es handelt sich aber um Demokratie. Trotzdem kann man verstehen, dass die demokratischen Gesetzgebungsprozesse die Betroffenen manchmal zur Verzweiflung treiben. Sind nicht alle Argumente längst ausgetauscht? Hat nicht die SPD einmütig ihre Hilfe signalisiert? Ist die weitere Debatte nicht in Wahrheit verlogen?
»Wir drehen uns im Kreis, und wenn man sich im Kreis dreht, muss man nach Auswegen suchen«, sagt Denef, »mein Ausweg ist der gewaltfreie Widerstand.« Gewaltfrei? Immanuel Kant, der ein scharfer Kritiker des Selbstmordes war, hätte argumentiert, dass das Hand-an-sich-Legen um eines politischen Zieles willen ein moralisches Verbrechen sei, weil das Subjekt sich selber zum Objekt degradiere. Friedrich Hegel hätte ergänzt, dass der Einsatz des eigenen Lebens für eine politische Sache zwar unter Umständen moralisch gerechtfertigt sei, aber dass der Staat sich trotzdem nicht erpressen lassen dürfe durch die Ultima Ratio eines angedrohten Suizids. – Da könnte ja jeder Lebensmüde Gesetze erpressen!
Norbert Denef bestreitet die Erpressungslogik seines Hungerstreiks. Er sieht ihn als Demonstration und sagt, vom Sterben könne noch längst keine Rede sein. Doch wenn er weiter hungert?
Was müsste eigentlich geschehen, damit er den Hungerstreik abbricht? »Die SPD müsste das eindeutige Votum der Delegierten des Parteitages öffentlich anerkennen.« Es war aber verfahrenstechnisch kein Votum. Es war nur eine klare Sympathiebekundung. Eine symbolische Zusage.
Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag Christine Lambrecht sagte auf Anfrage der ZEIT: »Die rechtliche Situation der Opfer ist unzumutbar. Wir brauchen deutlich längere Verjährungsfristen. Also 20 Jahre im Strafrecht und 30 Jahre im Zivilrecht.«
Der SPD-Gesetzesentwurf dafür sei bereits durch die erste Lesung, werde aber von der Regierungskoalition nicht weiter bearbeitet. »Wir wollen das in der nächsten Sitzungswoche im Rechtsausschuss thematisieren. Wenn das nicht geschieht, wollen wir eine Geschäftsordnungsdebatte im Bundestag erwirken.« Die komplette Aufhebung der Verjährungsfristen sei politisch jetzt nicht durchsetzbar, auch verfassungsrechtlich heikel. »Wir wollen aber Gerechtigkeit herstellen und die rechtliche Lage der Opfer verbessern. Wir hoffen, dass Norbert Denef bald wieder mit uns gemeinsam kämpft.« Die SPD war sich aber nicht ganz sicher, ob das dem Streikenden genügt. Deshalb hat Manuela Schwesig vom Bundesvorstand der Partei ihn persönlich angerufen. Sie sagt: »Die SPD will so weitgehend wie keine andere Partei die Fristen verlängern. Wir hoffen, dass Herr Denef erkennt, dass er Gehör findet. Denn wir sind ihm sehr dankbar für sein Engagement und seinen Mut, das Thema sexualisierte Gewalt aus der Tabuzone herauszuziehen. Wir hoffen inständig, dass er seinen Hungerstreik abbricht.«
Norbert Denef, wenn man ihn bittet, seinen Streik zu beenden, entgegnet, dass etwas ganz anderes beendet werden müsse. Nämlich das Lügen beim Thema Missbrauch. Der Verrat. Er wolle die Politik nicht erpressen, sondern ihr einen Spiegel vorhalten. »Ich bin auch nicht wütend, sondern ganz gelassen. Mein Vorbild ist Mahatma Gandhi, der mit seinem Hungerstreik die Welt verändert hat.« Vielleicht muss man den Hungerstreik wirklich als Streik betrachten und nicht als Drohung mit Selbstmord. Selbstmord ist nur dann ein Ausweg, wenn man verzweifelt ist, aber kein Ausweg, wenn man eine politische Agenda verfolgt. Denn die Agenda kann immer scheitern. Dann hat man sich sinnlos ins Nichts gestürzt.
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