Deutsches Ärtzeblatt
Nach wie vor schwerwiegende Mängel
Doro Maier
In der Gesundheitsberichterstattung des Bundes zu den gesundheitlichen Folgen von Gewalt (Heft 42) weist das Robert Koch-Institut bereits 2008 auf „die unzureichende Qualifikation im Erkennen von Gewaltfolgen und im adäquaten Umgang mit der Problematik im gesamten System der medizinischen Versorgung“ hin. Die Mehrzahl der praktizierenden Ärzte, Ärztinnen und Pflegekräfte fühlt sich demnach nicht ausreichend vorbereitet und kompetent, die Folgen körperlicher, sexualisierter und häuslicher Gewalt zu diagnostizieren.
Daran hat sich auch Jahre später nichts Wesentliches geändert, wie der Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs, Dr. Christine Bergmann, von 2011 zeigt: „Ganz offensichtlich gibt es auch im therapeutischen Berufsfeld einen allgemeinen Aus- und Weiterbildungsbedarf zum Thema sexueller Missbrauch. Dies geht aus den Erfahrungen Betroffener, den Aussagen von Expertinnen und Experten aus Pädagogik, Medizin und Therapie sowie aus der Online-Befragung von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (s. D. IV.) hervor.“ Bergmann hält fest, dass „viele Psychotherapeutinnen bzw. Psychotherapeuten in ihrer Ausbildung nicht oder nur unzureichend auf die Behandlung von Patientinnen bzw. Patienten mit Missbrauchshintergrund vorbereitet werden“.
„Im Vergleich zur Relevanz der Gewaltproblematik sind die vorhandenen Forschungs- und Datenlücken in Deutschland als beträchtlich einzuschätzen. Bislang wurden lediglich ausgewählte Zusammenhänge zwischen Gewalt und Gesundheit untersucht. Gesundheitsfolgen und Komorbiditäten (…) in spezifischen Zielgruppen (…) und daraus abzuleitender Versorgungsbedarf wurden bislang weitgehend vernachlässigt. Vergleichbar wenig erforscht ist die mögliche Potenzierung gesundheitlicher Folgen von Gewalt, die Rolle biografisch bedingter Risikofaktoren für Gewalterfahrungen und gesundheitliche Folgebeschwerden sowie die Frage nach geschlechtsspezifischen Unterschieden im Kontext sexueller und/oder häuslicher Gewalt.“ (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 42, 2008)
Betroffene von sexualisierter Gewalt im Kindesalter sehen sich auch drei Jahre nach Canisius noch immer großen Lücken in der qualifizierten Diagnostik und Versorgung gegenüber. Dies gilt auch für das Opferentschädigungsgesetz (OEG). Theoretisch steht es Betroffenen von sexualisierter Gewalt unter den o.g. Bedingungen (Zeitpunkte der Taten) offen. Praktisch allerdings birgt das gesamte Verfahren für Betroffene ein hohes Retraumatisierungsrisiko und endet überproportional häufig mit einem Ablehnungsbescheid.
Eine Studie der Hochschule Fulda zum Opferentschädigungsgesetz (OEG) und der Verfahrenspraxis in der Opferentschädigung (September 2010) diagnostiziert eine im Opferentschädigungsgesetz allgemein angelegte strukturelle Benachteiligung für Opfer von häuslicher Gewalt: „Das OEG erfasst faktisch nicht alle Gewaltformen gleichermaßen. Strukturell scheint eine Benachteiligung in den Entschädigungschancen der Opfer häuslicher Gewalt vorzuliegen und damit indirekt eine Benachteiligung von Frauen, vermutlich auch von Kindern und älteren Menschen.“ (Quelle: Anna Grundel, Beate Blättner, „Entschädigung von Opfern interpersoneller Gewalt im Raum Fulda“, Studie zum Opferentschädigungsgesetz (OEG) und der Verfahrenspraxis in der Opferentschädigung, Hochschule Fulda, September 2010)
Strukturelle Beeinträchtigungen im OEG-Verfahren bestehen auch durch die Tatsache, dass die versorgungsmedizinischen Grundsätze, die in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung festgelegt sind und nach denen der Grad der Schädigungsfolgen zu bewerten ist, nicht den aktuellen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechen. Der Opferverband „Weißer Ring“ schreibt dazu auf seiner Internetseite: „Die Anhaltspunkte wurden zum 01.01.2009 in die „Versorgungsmedizin-Verordnung“ überführt. Hiermit NICHT verbunden war eine Überarbeitung und Anpassung an die aktuellen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft.“ (Quelle: Weißer Ring, Dezember 2010, Hervorhebung d.d.A.)
Auch im Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs vom Mai 2011 heißt es: „Von Fachleuten wird darüber hinaus bezweifelt, ob die bei der Begutachtung im OEG anzuwendenden versorgungsmedizinischen Grundsätze die Einbeziehung neuer Forschungsergebnisse bei der Klärung des Kausalzusammenhangs ausreichend sicherstellen.“
Das heißt: Wer als Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Kindheit heute einen Antrag nach dem OEG stellt, wird nach Maßstäben beurteilt, die nicht den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen. Entsprechend werden Gesundheitsschäden nicht als Schädigungsfolgen anerkannt oder der Grad der Schädigung zu gering bewertet.
Nach wie vor also haben Betroffene große Schwierigkeiten, an entsprechend qualifizierte Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Gutachterinnen und Gutachter usw. zu gelangen. Nach wie vor müssen sie eher mit Unkenntnis und Fehldiagnosen rechnen, mit den entsprechenden Folgen (Retraumatisierung, Chronifizierung, falsche Therapie, etc.).
Betroffene – soviel weiß man heute – brechen ihr Schweigen häufig erst, wenn ihnen die Kraft ausgeht, ihr Geheimnis weiter zu tragen. Das Schweigen zu brechen kostet zusätzlich Kraft. Auf Unverständnis und mangelnde Kenntnis bei denjenigen zu stoßen, an die man sich wendet (isb. Professionelle), kostet zusätzlich Kraft. Kraft, die man ja eigentlich schon nicht mehr hatte, um das Geheimnis zu wahren. Sich als Betroffene/r von sexualisierter Gewalt in der Kindheit auf die Suche nach einer qualifizierten Traumatherapie zu machen, zahlreiche Fehlversuche zu überstehen, lange Wartezeiten zu ertragen, kostet zusätzlich Kraft. Sich als Betroffene/r von sexualisierter Gewalt in der Kindheit in ein OEG-Verfahren zu begeben, stellt in Deutschland ein Himmelfahrtskommando dar, kostet wiederum unsäglich viel Kraft und birgt zudem die Gefahr der Retraumatisierung (wie übrigens jede falsche Behandlung auch!). Mit all dieser Überforderung stehen Betroffene trotz zwischenzeitlich drei Jahren öffentlicher Diskussion der Problematik immer noch alleine da. Noch immer treffen sie nicht auf Strukturen, die ihnen einen schnellen Zugang zu wirklich qualifizierter Unterstützung und Hilfe garantiert. Und erst recht nicht erhalten sie die Unterstützung, die das OEG offiziell verspricht. Traurig, aber wahr
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