zaterdag, februari 09, 2013

Sexueller Kindesmissbrauch: Aus der Opferrolle herausfinden I

 Met dank aan  NetzwerkB

Dtsch Arztebl 2013; 110(5): A-170 / B-156 / C-156

 Jachertz, Norbert


Es gibt eine verwirrende Vielzahl von Hilfsangeboten. Und dennoch bestehen Engpässe in der Traumatherapie. Institutionen tragen ein „strukturelles Risiko“. 

Am 31. Dezember 2012 schaltete die katholische Deutsche Bischofskonferenz ihre Hotline ab, bei der Opfer sexueller Gewalt anrufen konnten. Es habe kaum noch Anrufe gegeben, hieß es. Eine am 17. Januar vorgelegte Statistik der Hotline – mehr als 10 000 Kontakte innerhalb von zwei Jahren – lässt das Ausmaß der Handlungen erahnen. Genaueres zum Missbrauch von Abhängigen durch Geistliche sollte ein Forschungsprojekt zutage fördern, mit dem der Kriminologe Prof. Dr. jur. Christian Pfeiffer betraut wurde. Der Vertrag platzte am 9. Januar. Die gegenseitigen Vorwürfe lassen auf einen versteckten Dissens schließen: Die Vertragspartner hatten sich in der Eile nicht genügend über ihre jeweiligen Erwartungen und Möglichkeiten ausgetauscht. Vertane Zeit.

Dennoch. Die Gesamtbilanz der Bemühungen um Aufarbeitung und Opferhilfe sieht so schlecht nicht aus, seit im Januar 2010 jener Brief bekanntwurde, der die Missbrauchsdebatte ins Rollen brachte. Der Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin, Jesuitenpater Klaus Mertes, hatte an mehr als 600 Ehemalige geschrieben und vom systematischen sexuellen Missbrauch an vielen Schülern berichtet. Nicht nur katholische Erziehungseinrichtungen waren betroffen, wie sich herausstellte, doch blieben sie, neben der Odenwaldschule, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Die Welle von immer neuen Offenbarungen, von Empörung und Anschuldigungen führte dazu, dass die verantwortlichen Institutionen gezwungen wurden, Missbrauch nicht insgeheim aufzuklären, sondern strafrechtlich verfolgen zu lassen. Zugleich wurden die Opfer ermutigt, sich zu melden, Therapien anzunehmen und Entschädigungen zu fordern.
Institutionell ist, wenn auch mit Abstrichen, einiges geschehen: 

1. Die katholischen Bischöfe ernannten noch im Februar 2010 den Trierer Bischof, Dr. Stephan Ackermann, zum Missbrauchsbeauftragten, gaben im August 2010 Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger heraus und entschlossen sich schließlich im März 2011 zu gewissen Entschädigungen. Stecken blieb hingegen die unvoreingenommene Aufdeckung der die Missbräuche fördernden Strukturen.
2. Gleich drei Bundesministerinnen (für Bildung, Familie und Justiz) versammelten im Frühjahr 2010 die Betroffenen um einen „Runden Tisch“; dieser kam Ende 2011 mit einem Paket von Empfehlungen zum Umgang mit Opfern, zur Intervention bei Verdachtsfällen und zur Prävention heraus. Die freilich müssen noch umgesetzt werden.
3. Gleichzeitig etablierte die Bundesregierung einen „unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“. Dieser schließt seitdem unermüdlich mit den Dachverbänden von Heimträgern, Kliniken und Jugendeinrichtungen freiwillige „Vereinbarungen“ zum Schutz von Jugendlichen.
4. Ärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und gesetzliche Krankenversicherung einigten sich im September 2012 auf eine Rahmenempfehlung, um das Informationsangebot und die Versorgung von Missbrauchsopfern zu verbessern (siehe DÄ, Heft 44/2012).
5. Bund und Länder errichteten 2012 – nicht nur infolge der Missbrauchsdebatte, aber durch sie vorangebracht – die beiden Fonds für Heimkinder West (dieser auch gemeinsam mit den Kirchen) und Heimkinder Ost.
6. Ein Netz von Anlauf- und Beratungsstellen entstand. 

Defizite bei Prävention und Therapieangeboten
Die Missbrauchsdebatte förderte aber auch erstaunliche Defizite zutage: in der Prävention, beim Umgang mit Verdachtsfällen, bei der Zuwendung zu den Opfern, im Therapieangebot. Diese wurden zwar angegangen, sind aber keineswegs behoben. Dem Betroffenen fällt es immer noch schwer herauszufinden, welche Beratungsstelle für ihn zuständig, auf welche Anspruchsgrundlage er seine Forderung nach Hilfe stützen kann oder welcher Therapeut geeignet erscheint.

Wenn er überhaupt einen findet. Denn es gibt erhebliche Versorgungslücken auf dem Land, für Behinderte und für Betroffene mit Migrationshintergrund. Auch in der Stadt heißt es warten. Bei einem Workshop des Traumanetzes Seelische Gesundheit zum Thema „Trauma und Institution“ im Dezember 2012 in Dresden wurden Wartezeiten von einem Jahr genannt. Wünschenswert sei zudem, dass sich fortgebildete Traumatherapeuten der Missbrauchsopfer annähmen. Nicht jeder Psychiater/Psychotherapeut sei gleich auch ein Traumatherapeut. Ähnliches scheint, folgt man dem Workshop, auf psychiatrische Gutachter zuzutreffen, die zum Beispiel bei Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz eine ausschlaggebende Rolle spielen. Psychiatrische Gutachter schätzten Traumatisierungen oft zu gering ein, bedauerte Dr. med. Julia Schellong von der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik in Dresden. Das sei auch eine Frage der „Schulen“. Schellong sieht die Traumatherapie als noch relativ junges, aber schon eigenständiges, wissenschaftlich fundiertes Fach an. Sie gehört zu den Initiatoren des „Traumanetzes“, in dem Ärzte, Psychologische Psychotherapeuten und weitere Gesundheits- und Sozialberufe vorwiegend aus Sachsen zusammenarbeiten. 

Eine gemischte Bilanz zog auf seiner Jahrespressekonferenz in Berlin der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig. Vor allem in der Prävention sei nicht genug erreicht. „Vordringlich müssen die Spielräume der Täter eingegrenzt werden“, bekräftigte er bei dem Dresdener Workshop. Vielen Institutionen scheine immer noch das Problembewusstsein zu fehlen. Die Einstellung reiche vom Eingeständnis, man habe das Problem „sträflich vernachlässigt“, bis zu: „Bei uns ist die Welt Gott sei Dank noch in Ordnung“, zitierte Rörig Antworten aus einer Befragung bei circa 200 Einrichtungen aus dem Jahr 2012. Demnach haben 61 Prozent der befragten Einrichtungen ein Präventionskonzept erarbeitet, eine Risikoanalyse nur 36 Prozent, von einem „Notfallplan“ bei Verdacht auf Missbrauch berichten 58 Prozent. Ein Musterstück an Hilflosigkeit lieferte im November 2012 die Berliner Charité. Hier wurde ein Pfleger verdächtigt, sich Patientinnen gegenüber auffällig verhalten zu haben. Der Fall ist bislang nicht vollständig geklärt. Doch, um mit Rörig zu sprechen, „es war der Leitung nicht klar, was getan werden muss, wenn ein Verdacht aufkommt“. Nun arbeite sie an einem Konzept. „Und ich hoffe, dass die Charité nun zum Vorbild wird.“ 

Verlorenes Vertrauen, zögernde Wiedergutmachung
Die kindlichen und jugendlichen Opfer von sexueller und anderer Gewalt stehen zumeist allein einer „Institution“ gegenüber. Diese neigt dazu, Anschuldigungen abzuwehren oder kleinzureden, ja, sich selbst als Opfer der Täter zu sehen. Ein Lied davon kann der Jesuitenpater Mertes singen, dem die Aufdeckung der Taten am Canisius-Kolleg keineswegs gedankt wurde. Bei dem Dresdener Workshop berichtete er von spontaner Abwehr der Kirchenoberen und von Anwürfen, die ihm entgegenschlugen. Die Institution rutsche leicht ab „in das Jammern über die eigenen Schmerzen“. Das könne geradezu in Hassgefühle gegenüber den Opfern wie den Aufklärern umschlagen. Doch die Institution, hier die Kirche, müsse den Opfern Vertrauen entgegenbringen. „Das wichtigste ist, die Opfer anzuhören“, betonte Mertes.

Prävention von Gewalt setzt Selbsterkenntnis bei den Verantwortlichen voraus. Denn „Institutionen, in denen Mädchen und Jungen leben und lernen, tragen ein strukturelles Risiko sexueller Gewalt“, resümierte Christiane Hentschker-Bringt, eine Sozialpädagogin, die an Schulen mit Kindern einübt, sich zu behaupten. Täter suchten sich bewusst oder unbewusst solche Einrichtungen. Dabei geht es nicht allein um sexuelle, sondern auch um körperliche und psychische Gewalt.

Gewalt jeder Art scheint in Heimen der DDR verbreitet gewesen zu sein. Sie betraf weniger die sogenannten Normalheime als die speziellen Einrichtungen für verhaltensauffällige Jugendliche, etwa die Jugendwerkhöfe, insbesondere den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Ziel der Einweisung sei Disziplinierung, Anpassung, ja Unterwerfung gewesen, berichtete die Psychiaterin Ruth Ebbinghaus, Würzburg, auf der Dresdener Tagung. Sie arbeitete 2011 bei einem Bericht über die DDR-Heimerziehung mit. Das sei durch Kollektiverziehung, Drill und harte Strafen wie Essensentzug, An-den-Pranger-Stellen, Arrest, vielfältige Gewalt durch Erzieher, erreicht worden. Die Folgen seien überangepasstes wie auch aggressives oder autoaggressives Verhalten, fehlende Selbstständigkeit oder auch die Unfähigkeit, Hilfe anzunehmen. Wichtig für die Rehabilitation sei die offizielle Anerkennung des erlittenen Unrechts und Leids. Eine materielle Entschädigung sei auch psychisch wichtig. Entscheidend sei es, dass es den Betroffenen gelinge, aus der Opferrolle herauszufinden. Es gelte, das persönlich erlittene Unrecht als gesellschaftlich verursacht anzusehen. Es gebe freilich bisher keine speziellen Konzepte für die Behandlung komplexer Traumatisierungen.

Norbert Jachertz



Anspruchsgrundlagen


Nach dem Opferentschädigungsgesetz haben Opfer eines „tätlichen Angriffs“, der sich nach dem 15. Mai 1976 (alte Bundesländer) oder 2. Oktober 1990 (neue Bundesländer) zugetragen hat, Anspruch auf Heilbehandlung und Rehabilitation nach dem Bundesversorgungsgesetz. Sexueller Missbrauch wird als tätlicher Angriff gewertet.

Heimkinder aus den alten Bundesländern, die zwischen 1949 und 1975 in Heimen waren, können durch den Fonds Heimerziehung West, der von Bund, West-Ländern und Kirchen getragen wird, entschädigt werden (Anträge bis 31. Dezember 2014). Heimkinder aus den neuen Bundesländern, die zwischen 1949 und 1990 in DDR-Heimen waren, können Entschädigungen aus dem Fonds Heimerziehung Ost erhalten, der von Bund und Ost-Ländern getragen wird (Anträge bis 30. Juni 2016).

Beide Fonds prüfen zunächst die Berechtigung und schließen sodann mit den Antragstellern individuelle Vereinbarungen über materielle, medizinische oder psychotherapeutische Leistungen ab. Betroffene, die zwangsweise in DDR-Heime eingewiesen waren, insbesondere in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, können zudem nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz auch Ansprüche auf finanzielle Leistungen haben.

Die katholischen Bistümer vergüten bis zu 50 Sitzungen bei einem approbierten Psychotherapeuten (bei Paarbetreuung 25 Sitzungen) und zahlen außerdem eine Art Schmerzensgeld von bis zu 5 000 Euro.

Geen opmerkingen: