woensdag, februari 23, 2011

Die Missbrauchsbeauftragte Christine Bergmann:„ Die Gesellschaft muss noch aufmerksamer werden Niemand darf wegsehen“


Neue Osnabrücker Zeitung
Autor: Uwe Westdörp
Osnabrück. Wie steht es um den Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch? Was ist seit Beginn der jüngsten Enthüllungen bereits passiert, was ist noch zu tun? Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann, zieht Bilanz.

Frau Bergmann, vor etwas mehr als einem Jahr lösten Berichte über sexuellen Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg eine Aufklärungswelle aus. Hat sich der Schutz der Kinder seither verbessert?
Es ist viel passiert. Die Öffentlichkeit ist stärker sensibilisiert, auch das Wissen über das Ausmaß von sexuellem Missbrauch ist heute sehr viel größer, und es wird häufig schneller reagiert. In Berlin gab es etwa einen Missbrauchsfall auf der Kinderintensivstation einer Klinik. Als eines der Opfer sich den Eltern offenbarte, haben diese den Fall sofort ernst genommen. Und die Klinik hat gar nicht erst versucht, etwas zu vertuschen. Früher gab es dagegen oft das Problem, dass Opfern nicht geglaubt worden ist.

Wie viele Menschen haben sich bisher bei Ihrer Anlaufstelle gemeldet?
Über 1 0. 0 0 0.
Es gab rund 9000 Anrufe, außerdem gingen etwa 2000 Briefe und Mails bei uns ein. Und die Anlaufstelle wird auch aktuell immer noch sehr stark in Anspruch genommen.

Aus welchen Bereichen kommen die Anrufer?
Das hat sich im Laufe der Monate verschoben. Anfangs meldeten sich in der Mehrzahl Betroffene aus den Institutionen, das hatte auch mit der öffentlichen Debatte zu tun. Die Bilanz sieht aber heute so aus, dass mehr als 50 Prozent der von uns registrierten Fälle sich im familiären Umfeld zugetragen haben.

Melden sich mehr Männer oder mehr Frauen?
Im familiären Bereich sind es deutlich mehr Frauen, im Bereich der Institutionen mehr Männer als Frauen. Die Alterspanne reicht von acht bis 89 Jahren. Das Durchschnittsalter liegt bei 47 Jahren.

Die öffentliche Debatte konzentriert sich zurzeit auf finanzielle Entschädigungen. Ist das auch das Hauptthema bei den Gesprächen mit den Betroffenen?
Nein, keineswegs. Die Themen, die bei uns am häufigsten genannt werden, sind Therapie und Beratung. Ganz häufig kommt zudem der Hinweis: Sorgt dafür, dass den Kindern von heute nicht das passiert, was wir erleben mussten. Beim Thema Entschädigung ist vor allem die gesellschaftliche Anerkennung wichtig. Dass den Betroffenen geglaubt wird, dass ihnen Schlimmes widerfahren ist. Das liegt auch daran, dass ihnen ja häufig von den Tätern die Schuld zugeschoben worden ist.

Die Jesuiten wollen Missbrauchsopfern 5000 Euro zahlen. Auch die katholischen Bischöfe haben sich auf Zahlungen geeinigt. Was wird aus dem gemeinsamen Fonds, den der Runde Tisch einrichten will?
Dort, wo klare Verantwortung besteht, etwa in Jesuiten-Kollegs, wird niemand gehindert, finanzielle Einzellösungen anzubieten. Im Übrigen befasst sich der Runde Tisch Anfang März mit dem Thema Entschädigung. Es wird hierbei auch um die Verlängerung der Fristen, in denen zivilrechtliche Ansprüche verjähren, gehen, und um Änderungen im Opferentschädigungsgesetz. Ein weiteres wichtiges Thema, das im Kontext von Hilfen gesehen werden muss, ist die bereits genannte Forderung der Betroffenen nach ausreichenden Therapie- und Beratungsangeboten, sodass es ein weites Feld für eine gemeinsame Fondslösung gibt.

Mitte bis Ende Mai wollen Sie dem Runden Tisch Ihre Empfehlungen unterbreiten. Was werden Sie in den Vordergrund stellen?
Für die Betroffenen haben Beratungs- und therapeutische Leistungen ganz klar den Vorrang. Und das werde ich so weitergeben.

Das Koblenzer Landgericht verhandelt einen Fall aus dem Westerwald, in dem es um sexuellen Missbrauch in Hunderten Fällen geht. Ist es nicht beängstigend, dass solche Vorgänge über Jahre im Dunkeln bleiben?
Die Dunkelziffer ist mit Sicherheit sehr hoch. Die Kriminalstatistik weist für 2009 bundesweit etwa 13000 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen aus. Aber das sind nur die Fälle, die zur Anzeige gebracht wurden. Und man muss davon ausgehen, dass die tatsächliche Zahl um ein Vielfaches höher ist.

Was kann man tun, um Licht ins Dunkel zu bringen?
Wenn man Kindern mehr Glauben schenkt, sie in rechtlichen Verfahren besser begleitet, dann wird es vermutlich auch mehr Anzeigen geben. Zudem muss die Gesellschaft noch besser informiert sein. Man muss fragen: Wissen alle, an wen sie sich in einem Verdachtsfall wenden können, sind Beratungsstellen in der Nähe bekannt? Ganz wichtig ist auch, dass die Gesellschaft noch aufmerksamer wird. Niemand darf wegsehen. Denn es ist kaum vorstellbar, dass so schreckliche Dinge geschehen wie im Westerwald, und das bekommt angeblich keiner mit. Alle, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, müssen so weit geschult werden, dass sie Verdachtsmomente erkennen können und auch wissen, wie sie damit umgehen müssen.

Welches sind die wichtigsten Warnsignale?
Wichtig ist zu erkennen, wenn sich ein Kind verändert. Die einen werden aggressiv, andere ziehen sich zurück. Wie Kinder auch immer reagieren – Veränderungen können deutliche Signale sein.
Wichtig ist zu erkennen, wenn sich ein Kind verändert. Die einen werden aggressiv, andere ziehen sich zurück. Wie Kinder auch immer reagieren – Veränderungen können deutliche Signale sein.

Was sind Ihre Hoffnungen für die Zeit nach dem Runden Tisch?
Es ist enorm wichtig, dass konkrete Maßnahmen folgen. Es muss sich jeder Verein, jeder Verband, jede Kita, jede Schule mit dem Thema auseinandersetzen und prüfen: Gibt es Fortbildungsbedarf? Wissen alle, was zu tun ist, wenn morgen ein Verdachtsfall gemeldet wird?

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