dinsdag, juli 02, 2013

Davon haben wir gewusst; Macht, Sexualität, Gewalt Gesellschaftliche, politische und pedagogische Konsequenzen aus den Misbbrauchsskandalen

Andreas Huckele, Jahrgang 1969, war von 1981 bis 1988 Schüler der Odenwaldschule. Seine Gewalterfahrungen in der Odenwaldschule verarbeitete er in dem 2011 erschienenen und 2012 mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichneten Buch „Wie laut soll ich denn noch schreien? – Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch“, das er unter seinem Pseudonym Jürgen Dehmers veröffentlichte.
Er lebt mit seiner Familie in Frankfurt und arbeitet als Lehrer, systemischer Supervisor und Autor.


Wenn man weiß, was ihm widerfahren ist, wünscht man sich, das wäre ihm erspart geblieben: Denn die Auszeichnung für sein "seltenes Beispiel von Mut" galt einem Buch, in dem Huckele – noch unter dem Pseudonym Jürgen Behmers – detailliert von dem sexuellen Missbrauch erzählte, der ihm und anderen an der Frankfurter Odenwaldschule angetan wurde.

Jahrzehntelang hatten sich an einem Ort, der als ein Leuchtfeuer der Reformpädagogik galt, Lehrer und Erzieher über ihnen anvertraute Schüler hergemacht, sie bedrängt, befummelt, belästigt, begrapscht, behechelt, belästigt und vergewaltigt. Und all die Zeit über wusste man an jenem Ort, dass dergleichen geschah. Es gab Gerüchte, Symptome, Signale und Zusammenbrüche. Sie wurden heruntergespielt, übersehen und verdrängt. Bis Huckele, der immer wieder mit wenig Erfolg versucht hatte, seine Erfahrungen öffentlich zu machen, 2010 endlich so viel Gehör bei den Medien fand, dass sich der Skandal einfach nicht mehr länger vertuschen oder aussitzen ließ.

Die Odenwaldschule gibt es immer noch, man weiß nicht so genau, aus welchen Gründen Eltern ihre Kinder in ein Internat schicken, von dem sie wissen, dass sie in Betten schlafen oder in Räumen duschen müssen, in denen anderen Kindern Gewalt angetan wurde. Aber vielleicht ist auch das ein Symptom: sowohl für die mangelnde Entschiedenheit, etwas Systematisches gegen den sexuellen Missbrauch an Kindern in pädagogischen Institutionen zu unternehmen, als auch für das Fortleben der Illusion, es handle sich immer nur um beklagenswerte Einzelfälle. Mittlerweile sind so viele bekannt geworden, nicht nur an der Odenwaldschule, dass man von einer Epidemie von Einzelfällen sprechen müsste.

In seiner Streitschrift "Macht, Sexualität, Gewalt", die gerade als E-Book erschienen ist, unternimmt es Huckele ein weiteres Mal, uns die Beruhigungsmittel zu nehmen, mit denen die Gesellschaft versucht, schlechte Nachrichten zu bekämpfen. Sexuelle Gewalt gegen Kinder in pädagogischen Institutionen, sagt er, ist weitverbreitet, sie kann in jeder auch noch so gutwilligen geschehen, es gibt keine verlässlichen Täterprofile, mit denen man sich vor Lehrern und Erziehern zu schützen vermag, die Befriedigung darin finden, Kinder zu beherrschen und Grenzen zu überschreiten. Und auch wenn Eltern sich einbilden, ihre Kinder so erzogen zu haben, dass diese angstlos Auskunft darüber geben, sobald ihnen Gewalt und Übergriffe widerfahren, ist das keine Garantie, dass sie es im Ernstfall tatsächlich tun.

Die Gesellschaft, die Politik, die Institutionen machen sich etwas vor, wenn sie glauben, das Problem werde nun kleiner, weil es seit den Skandalen um die Odenwaldschule und andere pädagogische Einrichtungen nun ein wenig mehr Aufmerksamkeit gibt. Sexueller Missbrauch an Kindern findet immer noch statt, jetzt gerade, in diesem Augenblick, alle einschlägigen Erhebungen sprechen eine unmissverständliche Sprache. Und es mag zwar nachvollziehbar sein, dass sich die Gesellschaft nicht ständig mit den Traumatisierungen auseinandersetzt, die Kindern angetan werden, weil sie sonst aus dem Erschrecken nicht mehr herausfände – aber das hilft den gegenwärtigen und zukünftigen Opfern nicht.

Was ist seit dem Bekanntwerden des Odenwaldskandals wirklich geschehen, fragt sich Huckele. Seine bittere Antwort: nichts. Gewiss, es gibt einen Sonderbeauftragten der Bundesregierung – aber dessen Budget reicht nicht für nachhaltige Maßnahmen. Gewiss, in Reden wird eine "Kultur des Hinschauens" beschworen – doch in den Tagen zwischen den Absichtserklärungen kaum etwas unternommen, die Menschen im Hinschauen zu trainieren und ihnen Mut zu machen, gegen Untaten zu intervenieren und den Opfern zu helfen.

Huckele zählt auf, was alles geschehen müsste. Manches davon versteht sich gleichsam von selbst und müsste bloß politisch durchgesetzt werden (warum das allerdings nicht geschieht, bleibt rätselhaft; in einer Zeit, in der glücklicherweise zum Beispiel kaum noch jemand Anstoß an gleichgeschlechtlichen Ehen nimmt, sollten überwältigende Bundestags-Mehrheiten für den besseren Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen kein Problem sein): Die Entschädigungsansprüche der Opfer müssten ausgeweitet werden, die Verjährungsfristen für die Täter entfallen. Am wichtigsten aber ist Huckele wohl, dass die pädagogischen Institutionen endlich damit beginnen, sich selbst und den ihnen Unterworfenen einzugestehen, wie viel Macht sie haben, statt ihren edlen Absichten zu vertrauen (und dann zu erschrecken, wenn jemand sich an ihnen versündigt).

Eine gute Schule wäre eine, die ihren Schülern und deren Eltern sagt:
Hier bei uns kann euch Schreckliches widerfahren, wir haben Macht über euch, und möglicherweise gibt es unter uns welche, die diese Macht missbrauchen und euch quälen wollen. Wir wollen nicht, dass dergleichen vorkommt und unternehmen Anstrengungen für eure Sicherheit; doch falls es vorkommt, zögert nicht, Alarm zu schlagen, sprecht darüber, lasst es uns wissen. Das wäre eine Aufklärung, die weit über das hinausgeht, was pädagogische Institutionen heute tun; und eine Selbstaufklärung, die ihnen helfen könnte, zu Orten zu werden, an denen Kinder und Jugendliche sich sicher fühlen können.

Nun da wir wissen, was in Schulen immer wieder passiert, nützt alles Ignorieren, Verharmlosen und Verdrängen nicht mehr. Man weiß auch mit fest verschlossenen Augen. 

Andreas Huckele: Macht, Sexualität, Gewalt.Gesellschaftliche, politische und pädagogische Konsequenzen aus den Missbrauchsskandalen. Rowohlt, Reinbek. E-Book only, 40 S., 1,99 €.


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