Er lebt mit seiner Familie in Frankfurt und arbeitet als Lehrer, systemischer Supervisor und Autor.
Wenn man weiß, was ihm widerfahren ist, wünscht man sich, das wäre ihm erspart geblieben: Denn die Auszeichnung für sein "seltenes Beispiel von Mut" galt einem Buch, in dem Huckele – noch unter dem Pseudonym Jürgen Behmers – detailliert von dem sexuellen Missbrauch erzählte, der ihm und anderen an der Frankfurter Odenwaldschule angetan wurde.
Jahrzehntelang hatten sich
an einem Ort, der als ein Leuchtfeuer der Reformpädagogik galt, Lehrer
und Erzieher über ihnen anvertraute Schüler hergemacht, sie bedrängt,
befummelt, belästigt, begrapscht, behechelt, belästigt und vergewaltigt.
Und all die Zeit über wusste man an jenem Ort, dass dergleichen
geschah. Es gab Gerüchte, Symptome, Signale und Zusammenbrüche. Sie
wurden heruntergespielt, übersehen und verdrängt. Bis Huckele, der immer
wieder mit wenig Erfolg versucht hatte, seine Erfahrungen öffentlich zu
machen, 2010 endlich so viel Gehör bei den Medien fand, dass sich der
Skandal einfach nicht mehr länger vertuschen oder aussitzen ließ.
Die
Odenwaldschule gibt es immer noch, man weiß nicht so genau, aus welchen
Gründen Eltern ihre Kinder in ein Internat schicken, von dem sie wissen,
dass sie in Betten schlafen oder in Räumen duschen müssen, in denen
anderen Kindern Gewalt angetan wurde. Aber vielleicht ist auch das ein
Symptom: sowohl für die mangelnde Entschiedenheit, etwas Systematisches
gegen den sexuellen Missbrauch an Kindern in pädagogischen Institutionen
zu unternehmen, als auch für das Fortleben der Illusion, es handle sich
immer nur um beklagenswerte Einzelfälle. Mittlerweile sind so viele
bekannt geworden, nicht nur an der Odenwaldschule, dass man von einer
Epidemie von Einzelfällen sprechen müsste.
In seiner Streitschrift "Macht, Sexualität, Gewalt", die gerade als E-Book
erschienen ist, unternimmt es Huckele ein weiteres Mal, uns die
Beruhigungsmittel zu nehmen, mit denen die Gesellschaft versucht,
schlechte Nachrichten zu bekämpfen. Sexuelle Gewalt gegen Kinder in
pädagogischen Institutionen, sagt er, ist weitverbreitet, sie kann in
jeder auch noch so gutwilligen geschehen, es gibt keine verlässlichen
Täterprofile, mit denen man sich vor Lehrern und Erziehern zu schützen
vermag, die Befriedigung darin finden, Kinder zu beherrschen und Grenzen
zu überschreiten. Und auch wenn Eltern sich einbilden, ihre Kinder so
erzogen zu haben, dass diese angstlos Auskunft darüber geben, sobald
ihnen Gewalt und Übergriffe widerfahren, ist das keine Garantie, dass
sie es im Ernstfall tatsächlich tun.
Die Gesellschaft, die
Politik, die Institutionen machen sich etwas vor, wenn sie glauben, das
Problem werde nun kleiner, weil es seit den Skandalen um die
Odenwaldschule und andere pädagogische Einrichtungen nun ein wenig mehr
Aufmerksamkeit gibt. Sexueller Missbrauch an Kindern findet immer noch
statt, jetzt gerade, in diesem Augenblick, alle einschlägigen Erhebungen
sprechen eine unmissverständliche Sprache. Und es mag zwar
nachvollziehbar sein, dass sich die Gesellschaft nicht ständig mit den
Traumatisierungen auseinandersetzt, die Kindern angetan werden, weil sie
sonst aus dem Erschrecken nicht mehr herausfände – aber das hilft den
gegenwärtigen und zukünftigen Opfern nicht.
Was ist seit dem
Bekanntwerden des Odenwaldskandals wirklich geschehen, fragt sich
Huckele. Seine bittere Antwort: nichts. Gewiss, es gibt einen
Sonderbeauftragten der Bundesregierung – aber dessen Budget reicht nicht
für nachhaltige Maßnahmen. Gewiss, in Reden wird eine "Kultur des
Hinschauens" beschworen – doch in den Tagen zwischen den
Absichtserklärungen kaum etwas unternommen, die Menschen im Hinschauen
zu trainieren und ihnen Mut zu machen, gegen Untaten zu intervenieren
und den Opfern zu helfen.
Huckele zählt auf, was alles
geschehen müsste. Manches davon versteht sich gleichsam von selbst und
müsste bloß politisch durchgesetzt werden (warum das allerdings nicht
geschieht, bleibt rätselhaft; in einer Zeit, in der glücklicherweise zum
Beispiel kaum noch jemand Anstoß an gleichgeschlechtlichen Ehen nimmt,
sollten überwältigende Bundestags-Mehrheiten für den besseren Schutz von
Kindern vor sexuellen Übergriffen kein Problem sein): Die
Entschädigungsansprüche der Opfer müssten ausgeweitet werden, die
Verjährungsfristen für die Täter entfallen. Am wichtigsten aber ist
Huckele wohl, dass die pädagogischen Institutionen endlich damit
beginnen, sich selbst und den ihnen Unterworfenen einzugestehen, wie
viel Macht sie haben, statt ihren edlen Absichten zu vertrauen (und dann
zu erschrecken, wenn jemand sich an ihnen versündigt).
Hier bei uns kann euch
Schreckliches widerfahren, wir haben Macht über euch, und möglicherweise
gibt es unter uns welche, die diese Macht missbrauchen und euch quälen
wollen. Wir wollen nicht, dass dergleichen vorkommt und unternehmen
Anstrengungen für eure Sicherheit; doch falls es vorkommt, zögert nicht,
Alarm zu schlagen, sprecht darüber, lasst es uns wissen. Das wäre eine
Aufklärung, die weit über das hinausgeht, was pädagogische Institutionen
heute tun; und eine Selbstaufklärung, die ihnen helfen könnte, zu Orten
zu werden, an denen Kinder und Jugendliche sich sicher fühlen können.
Nun da wir
wissen, was in Schulen immer wieder passiert, nützt alles Ignorieren,
Verharmlosen und Verdrängen nicht mehr. Man weiß auch mit fest
verschlossenen Augen.
Andreas Huckele: Macht, Sexualität, Gewalt.Gesellschaftliche,
politische und pädagogische Konsequenzen aus den Missbrauchsskandalen.
Rowohlt, Reinbek. E-Book only, 40 S., 1,99 €.
Geen opmerkingen:
Een reactie posten