Ein Kommentar von Matthias Drobinski
Schläge und Erniedrigungen waren jahrzehntelang in deutschen Kinderheimen an der Tagesordnung. Ein runder Tisch will die Misshandlung aufklären. Doch die praktischen Vorschläge zur Entschädigung der Opfer sind beschämend.
Man muss ihre Geschichten hören, um zu verstehen, was die Kinder von einst so wütend macht. Warum sie so harsch und laut sind, die Heimkinder der fünfziger und sechziger Jahre.
Es sind Geschichten von Kindern, die Schutz, Geborgenheit und Liebe suchten, aber Schläge, Demütigungen und Drohungen bekamen, in kirchlichen Heimen oft genug im Namen Gottes; Geschichten von Kindern, die ihr Erbrochenes essen mussten und eingenässte Bettlaken um die Ohren geschlagen bekamen.
Das Leiden dauert anMisshandelte Heimkinder Historische Verantwortung
Man muss die Gutachten lesen, in denen Ärzte und Psychologen soziale Todesurteile sprachen: sittlich verwahrlost, faul, braucht strenge Führung. Oder jene Akten-Formulare sehen, die noch aus der Nazi-Zeit stammen und auf denen ein sparsamer Mensch das Wort "Lagerkommandant" durchgestrichen und "Heimleiter" darüber geschrieben hat.
So war das bis in die siebziger Jahre hinein. Bis heute leiden ehemalige Heimkinder unter den Folgen dessen, was sie erlebten.
Über zwei Jahre hinweg hat nun ein runder Tisch aufzuarbeiten versucht, was den Heimkindern geschah. Das Gremium, in dem die Kirchen und der Bund, die Länder und die Vertreter der Heimkinder saßen, hat Aufmerksamkeit und Anteilnahme geweckt für die gedemütigten Kinder von einst. Er hat klargestellt, dass die Schläge und Übergriffe keine Einzelfälle waren, sondern Teil eines Systems, das den Willen der Kinder und Jugendlichen brechen sollte.
Was die Analyse und die Erkenntnis angeht, hat der "Runde Tisch Heimerziehung" unter der Moderation von Antje Vollmer Beachtliches geleistet.
Umso beschämender sind die mageren praktischen Vorschläge: Eine allgemeine Entschädigung gibt es nicht, ein Fonds soll je nach Einzelfall Therapien bezahlen, Rentenausfälle und Folgeschäden ausgleichen - wenn dieser Fonds jemals zustande kommt. Bisher lehnt ihn eine Reihe unionsgeführter Bundesländer ab. Sie, nicht die Kirchen sind die Bremser; dabei hatten die Länder von 1953 an die Heimaufsicht.
Verständlicher Zorn
Ja, man kann den Zorn der Heimkinder verstehen, das Gefühl, wieder einmal gedemütigt worden zu sein, zurückgesetzt auch hinter jene Kinder, die an Eliteschulen Opfer sexueller Gewalt wurden, um die sich nun ein anderer runder Tisch kümmert, besetzt mit zwei Ministerinnen, gut ausgestattet mit Zuarbeitern.
Dabei geht es bei beiden runden Tischen um mehr als nur um späte Gerechtigkeit für die Opfer. Es geht - vor allem bei den Heimkindern - um die Glaubwürdigkeit des deutschen Rechtsstaates: Wie lässt sich Unrecht sühnen, das in einem staatlich beaufsichtigten Raum geschah - ohne dass dieser Rechtsstaat ein Instrumentarium für diese späte Sühne hat?
Formal sind die Bundesländer ja im Recht, wenn sie kein Geld zahlen wollen. Es gab eine Heimaufsicht, da gingen keine Beschwerden ein. Körperliche und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sind zehn Jahre, in schweren Fällen zwanzig Jahre nach der Volljährigkeit des Opfers verjährt.
Und kann der Staat, können die Träger der Heime rechtlich für eine falsche Pädagogik verantwortlich gemacht werden, die in den fünfziger und sechziger Jahren verbreitet war?
Wahrscheinlich nicht, und doch ist die Antwort ungenügend. Die Heimkinder hatten keine Chance, ihre Rechte wahrzunehmen. Sie lebten mitten im Rechtsstaat im faktisch rechtsfreien Raum, unter staatlicher Aufsicht, mit staatlicher Billigung. Der Staat, der gerade erst die Menschenwürde an den Anfang seines Grundgesetzes gestellt hatte, versäumte es, fahrlässig und gedankenlos, die Träger der Heime zur Achtung dieser Menschenwürde anzuhalten.
Daraus erwächst die historische Verantwortung aller Beteiligten an dieser Heimerziehung, darin besteht auch die historische Verantwortung all derer, die sexuelle Gewalt an Schulen, Internaten und anderen Einrichtungen bagatellisierten und verschwiegen, bis die Opfer sich nicht mehr selbst Recht verschaffen konnten.
Unrecht innerhalb des eigenen demokratischen Systems
Es wird für Bund und Länder, Kirchen und Sozialträger nicht einfach sein, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Die unrealistischen Forderungen mancher Heimkinder-Vertreter hat die Hardliner bei den Ländern bestärkt. Sie fürchten zudem, dass sich immer neue Gruppen melden, denen in den fünfziger und sechziger Jahren Unrecht geschah.
Doch ein Rechtsstaat erhält auch dadurch seine Glaubwürdigkeit, indem er anerkennt, dass er nicht unfehlbar ist. Dass es strukturelles Unrecht geben kann, das anerkannt und gesühnt werden muss - auch mit Geld.
Die Bundesrepublik hat das Unrecht anerkannt und gesühnt, das die Nationalsozialisten verübten, sie hat die Opfer der DDR-Diktatur entschädigt. Beides war schwierig, weil Unrecht nie wieder gutzumachen ist, beides war einfach, weil die Grenze zwischen Rechts- und Unrechtsstaat klar war.
Nun aber muss Deutschland Unrecht aufarbeiten, das innerhalb des eigenen demokratischen Systems geschah. Unrecht, das Teil der eigenen, mehr als 60 Jahre dauernden Geschichte ist. Und deshalb sind die ehemaligen Heimkinder auch keine lästigen Bittsteller, sondern Menschen, die ihrem Land einen Dienst tun. Sie zu entschädigen sollte Ehrensache sein.
Die gestohlene Kindheit kann ihnen ohnehin niemand mehr zurückgeben.
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